Historische Aspekte
Von Anfang an wussten die christlichen Gemeinden, dass sie eine besondere Verantwortung für kranke und schwache Menschen hatten. Es gehörte immer auch zu den Aufgaben von Klöstern, Kranke zu behandeln und Arme zu unterstützen.
Im großen Umfang wurden diese Tätigkeiten von den Ritter- und Hospitalorden ausgebaut, die es sich in der Zeit der Kreuzzüge zur Aufgabe machten, insbesondere die Jerusalempilger zu unterstützen und zu schützen. So richtete z.B. der Johanniterorden ein großes Spital in Jerusalem ein, in dem Kranke behandelt und betreut werden konnten. Zum Pflegepersonal gehörten selbstverständlich auch Priester, die sich um die seelischen Belange der Patienten kümmerten. Eine andere berühmte Einrichtung war das Kloster am St. Gotthard- Pass, dessen Hunde speziell für die Suche nach Vermissten und Verirrten ausgebildet und eingesetzt wurden. Die nach dem Heiligen Bernhard benannten Bernhardiner-Hunde haben heute noch einen legendären Ruf.
Nach dieser Zeit der großen christlichen Wanderbewegungen, in der auch die medizinische und geistliche Versorgung eine große Mobilität erlangt hatte, verlagerte sich die christliche Fürsorge mehr und mehr auf stationäre Einrichtungen und verschwand z.T. sogar ganz. Nur so ist es zu erklären, dass z.B. im 30-jährigen Krieg mehr Soldaten durch Krankheiten starben, als durch Kampfhandlungen.
Erst durch Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, wurde die Notwendigkeit der mobilen Ersten Hilfe wiederentdeckt. Von ihm ausgehend wurde die präklinische Fürsorge für Verletzte und Kranke – vor allem im militärischen Bereich – neu aufgebaut. Während das Pflegepersonal der stationären Einrichtungen (Krankenhäuser) weiterhin überwiegend aus Ordensleuten bestand, wurde die präklinische Versorgung weitgehend durch militärisches oder paramilitärisches Personal übernommen, das vor allem die medizinische und technische Rettung im Blick hatte. In der weiteren Entwicklung übernahmen speziell hierfür gegründete säkulare Vereine die präklinische Versorgung, z. B. das Rote Kreuz oder örtliche Samaritervereine. (Man bemerke den Anklang und die Erinnerung an den barmherzigen Samariter.)
Eine Fortsetzung der großen Geschichte ihres Ordens versuchten der Johanniter- Orden (evangelisch) und der Malteser- Orden (katholisch) durch die Gründung der Johanniter-Unfall-Hilfe und des Malteser-Hilfsdienstes in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die hier möglichen Chancen der seelsorglichen Betreuung von Geschädigten und Helfenden durch die jeweiligen Standortpfarrer wurden nur selten wirklich genutzt. Auch die vereinzelt benannten Feuerwehrkuraten konnten das allgemeine Bild nicht nachhaltig verändern.
Es ist erstaunlich, dass keiner der benachbarten seelsorglichen Bereiche, die Gemeindeseelsorge, die nach dem Vorbild der Militärseelsorge eingerichtete Polizeiseelsorge und auch nicht die gut ausgebaute Krankenhausseelsorge auf die Idee kam, sich um den Bereich des Rettungswesens zu kümmern.
Einen ersten Schritt hin zur heutigen Notfallseelsorge wurde von der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gemacht. Ausgehend von den Erfahrungen bei der großen Flutkatastrophe in Hamburg wurde eine Broschüre „Kirchliches Handeln bei Unglücksfällen und Katastrophen“ herausgegeben. Nachdem aber festgestellt wurde, dass Katastrophenschutz und Rettungsdienst Ländersache sind, versandete diese Initiative weitgehend. In einigen Ländern gab es Feuerwehrkuraten, die aber nur sehr vereinzelt und nie in irgendeiner Struktur auftraten.
Anfänge der Notfallseelsorge
Erst 1989 wurde ein neuer Versuch gestartet, um die Zusammenarbeit von Rettungsorganisationen und Kirchen neu zu beleben. Einige Pfarrer, die selber Mitglieder in Rettungsorganisationen waren, bemerkten den Mangel an seelsorglicher Betreuung im Rettungswesen. Sie gründeten 1990 die ökumenische “Arbeitsgemeinschaft Seelsorge in Feuerwehr und Rettungsdienst“ (AGS). In ihr trafen sich Seelsorger/innen und andere Interessierte aus der ganzen Bundesrepublik, die sich speziell um die Seelsorge in und mit den Rettungsorganisationen kümmern. Sie tauschten Erfahrungen aus und es wurde überlegt, wie den Aktiven und den Opfern seelsorglich und menschlich besser geholfen werden konnte.
Sie erfanden den Begriff „Notfallseelsorge“ und entwarfen das noch heute übliche Logo der Notfallseelsorge.
Es wurden Fortbildungen für Seelsorger/innen und für Einsatzpersonal angeboten. Neben der Weiterentwicklung der kirchlichen Notfallseelsorge hielt die AGS engen Kontakt zu anderen Institutionen, die ähnliche Ziele verfolgen: z. B. Kriseninterventionsteams, Polizeiseelsorge, Klinikseelsorge, der englischen “National Conference of Fire Brigade Chaplains“, der “International Critical Incident Stress Foundation“ (ICISF) und der “Deutschen Gesellschaft zur Prävention posttraumatischer Störungen“.
Unter dem Dach der AGS wurden seit 1993 „Bundestreffen Notfallseelsorge“ durchgeführt, die seit 1998 zum regelmäßig stattfindenden „Bundeskongress Notfallseelsorge und Krisenintervention“ führten.
1996 wurde die „Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen e.V.“ (SbE) gegründet, die seitdem Standards für den Bereich „Begleitung der Einsatzkräfte“ setzt.
Integration der Notfallseelsorge in kirchliche Strukturen
Seit 1995 wurden zunehmend hauptamtliche „Landeskirchliche Beauftragte für Notfallseelsorge“ ernannt. Sie formulierten 1997 als ein gemeinsames Selbstverständnis die „Kasseler Thesen“. Sie haben zu einer EKD-weiten Zusammenarbeit geführt „Konferenz Evangelische Notfallseelsorge“ (KEN).
Auch die katholischen Diözesanbeauftragten für Notfallseelsorge treffen sich seit 2010 in einer gemeinsamen Konferenz.
Im Frühjahr 2002 hat die KEN eine gemeinsame Ausbildungsordnung der Notfallseelsorge beschlossen.
Ebenfalls im Frühjahr 2002 wurde der „Arbeitskreis Feuerwehrseelsorge“ im Deutschen Feuerwehrverband gegründet. Er soll ein Austauschforum für die Feuerwehrseelsorger/innen sein.
2007 wurden die „Kasseler Thesen“ durch die „Hamburger Thesen“ ersetzt.
Der Konsensusprozess
Im Jahr 2000 wurde auf einer Tagung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) der Begriff „Psychosoziale Notfallversorgung“ (PSNV) erfunden. Unter ihm versammelten sich alle psychosozialen Angebote, die sich in den vorhergehenden Jahren im Bereich der Rettungsorganisationen entwickelt hatten. Z.B.: Notfallseelsorge, Krisenintervention im Rettungsdienst, Feuerwehrseelsorge, Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen, …)
Durch mehrere vom BBK initiierte Untersuchungen wurden grundlegende Forschungsergebnisse zu verschiedenen Themenfeldern der PSNV erarbeitet.
Das Team um Frau Prof. Dr. Irmtraud Beerlage (HS Magdeburg-Stendal) arbeitete an der „Entwicklung von Standards, Empfehlungen und Umsetzungsrahmenplänen für ein Netzwerk zur bundesweiten Strukturierung und Organisation psychosozialer Notfallversorgung“ und forschte anschließend zum Thema „Organisationsprofile, Gesundheit und Engagement im Einsatzwesen“. Herr Prof. Dr. Willi Butollo (LMU München) und seine Mitarbeiter entwickelten Grundlagen im Bereich der „Primären und Sekundären Prävention im Einsatzwesen“.
In einem mehrjährigen (2007 – 2010) vom BBK geleiteten Prozess wurde ein Konsens erarbeitet, der schließlich 2012 zu den „Gemeinsame Qualitätsstandards und Leitlinien zu Maßnahmen der Psychosozialen Notfallversorgung für Überlebende, Angehörige, Hinterbliebene, Zeugen und/oder Vermissende im Bereich der Psychosozialen Akuthilfe“ führte. Er beschreibt den derzeitigen bundesweit anerkannten Standard im Bereich der PSNV.
Die PSNV gliedert sich heute in die Bereiche:
– PSNV-B (Psychosoziale Notfallversorgung für Betroffene) und
– PSNV-E (Psychosoziale Notfallversorgung für Einsatzkräfte).
Dieser Artikel stammt von Hanjo von Wietersheim, 2015, gefunden auf: www.notfallseelsorge-bayern.de